87. WocheDokumentarfilmFSK12109 Min.
Inspiriert von W. G. Sebalds Buch "Luftkrieg und Literatur" und anhand von Archivmaterial setzt sich der ukrainische Regisseur mit dem Ausmaß der Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg und entscheidenden ethischen Themen auseinander: Ist es moralisch vertretbar, die Zivilbevölkerung als Mittel im Krieg einzusetzen? Ist es möglich, Massenvernichtung mit höheren "moralischen" Idealen zu rechtfertigen? Diese Fragen sind heute noch genauso aktuell wie vor 80 Jahren und ihre Dringlichkeit zeigt sich auf tragische Weise im gegenwärtigen politischen Geschehen.
Regie | Sergei Loznitsa |
Länge | 109 Minuten |
Land / Jahr | Deutschland, Niederlande, Litauen 2022 |
„On the Natural History of Destruction“ – so hieß in englischer Ausgabe W. G. Sebalds Essay „Luftkrieg und Literatur“, der 1999 die weitgehende Abwesenheit des Bombenkriegs in der deutschen Nachkriegsliteratur beklagte. Wie konnte es sein, dass die so einschneidende kollektive Erfahrung der Flächenbombardements, die mehr als eine halbe Million Menschenleben kosteten und das Erscheinungsbild so vieler deutscher Städte für immer veränderten, „kaum eine Schmerzensspur“ hinterlassen hatte? Sebald stand nie im Verdacht, rechtem Geschichtsrevisionismus das Wort zu reden, und ebenso wenig kann man diesen Vorwurf Sergey Loznitsa machen, der sich immer wieder mit dem Abgrund der Nazibarbarei auseinandergesetzt hat, erst im letzten Jahr mit „Babi Yar. Context“, davor unter anderem mit „Austerlitz“, dessen Titel ebenfalls auf Sebald verweist. Ging es Sebald in seinem Luftkrieg-Essay vor allem um die literarische Verarbeitung des traumatischen Geschehens, zielt Loznitsa in seinem Film auf grundsätzliche ethische Fragen: Ist es vertretbar, im Krieg die Zivilbevölkerung zum Ziel zu machen? Mit eindrucksvollem, bislang teils ungesehenem Material aus diversen Archiven, ohne jeglichen Kommentar, aber mit ausgefeiltem Sounddesign, führt Loznitsa uns die Schrecken der Bombardierungen vor Augen. Die Montage des Materials folgt dabei einer klar strukturierten Dramaturgie, die gleichwohl den historischen Kontext außen vor lässt. Nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Restaurierung des Materials sind Loznitsas Bilder von schockierender Eindringlichkeit, vor allem Aufnahmen verzweifelt umherirrender Menschen, wie sie die Nazis selbstverständlich nicht veröffentlichten, wirken teils so gegenwärtig, als könnten sie auch aus Syrien oder der Ukraine stammen. Loznitsas faszinierender filmischer Essay wird passend zu seinem Titel zu einer fast abstrakten, zeitlosen Reflexion von Krieg und Zerstörung und vom Leid von Zivilisten als Konstante der Geschichte.
Quelle: epd-Film